
Wintergeschichten 2
vom 12. Januar bis 28. Februar 2025

Eislaterne
Nach Schnee kommt Eis. Die nassen Straßen überfrieren, Schneegebirge, vom Pflug zusammengeschoben, vereisen. Das Wetter kostet Kraft: zu Fuß die rutschige Abfahrt hinunter ins Dorf, mit dem Auto ins Nachbardorf und dort wieder zu Fuß ganz hinunter ins Tal zum Stall. Nach der Eselversorgung das ganze zurück, nun bergauf. Spikes, die ich über meine Wanderstiefel streife, helfen. Die verstorbene Freundin hat sie mir geschenkt. Vielleicht denkst du dann an mich, hat sie gesagt.
Die Auf- und Abstiege stärken und schwächen die Muskeln gleichermaßen. Belastungsintoleranz ist schwer zu verstehen. Jeden Tag leihe ich mir etwas Kraft vom nächsten. Das geht nur begrenzte Zeit gut, bis zur nächsten PEM.
Und trotzdem bewundere ich die Schönheit dieser Tage. Ich mag das Knacken der gefrorenen Krusten auf dem Schnee, wenn ich durch sie hindurchtrete. Im Auto rankt der Frost aus verdunstendem Wasser, das meine Schuhe hineingetragen haben, Eisblumen auf die Fensterinnenseiten. Ich erkenne ein Gingkoblatt, von der Morgensonne hinterleuchtet. Mein Auto eine Eislaterne und ich sitze mittendrin.
An den Bäumen ist Frühnebel gefroren. Jeder einzelne Zweig hat eine glitzernde Zuckerschicht rundum. Reste von gebauschtem Schneeflaum in den Verzweigungen der Äste knacken von Frost, bersten und rieseln pudrig herunter. Die Schneehauben der Sträucher sind von der Sonne angeschmolzen. Das Wasser gefriert, noch bevor es herunterlaufen kann, zu langen organischen Tropfen. Luftblasen mit Reif sind darin eingehüllt wie kleine Perlen.
Eine Welt voller Wunder, wieder einmal.
Das schönste Geschenk: Die Wintervögel getrauen sich, nach dem Silvesterfiasko wieder zu balzen, die Uhus zuerst. Zaghaft noch, aber die Schockstille, die am Neujahrsmorgen begann und den Wald durchdrang, ist beendet. Man muss sich nur mal vorstellen, eine solch zutiefst erschütternde Angst zu haben, dass man für zwölf Tage verstummt.
Zuhause in Husen dann der Ruf des Steinkauzes. Auch ihn hatte ich vermisst. Und ein Rotkehlchen hüpfte heute wie ein Hoffnungsbringer in den Eselstall, drehte sein Köpfchen hin und her, mich aus allen Augenwinkeln betrachtend.
Ein Reh hat sich sogar in den verlassenen Eselgarten gewagt. Mit seiner Fährte im Schnee und Fraßspuren hat es eine Geschichte um die Beete herum geschrieben. Neben dem Gartentor ist es über den Zaun gesprungen und dann herumspaziert, hat hier vom Mangold gekostet und dort die Blätter der Roten Beten weggeknabbert. Vom verholzten Grünkohl fehlt nichts, das Reh ist wohl trotz winterlichen Nahrungsmangels wählerisch.
Sie alle haben Silvester überwunden. Gott sei Dank.
12. Januar 2025
Seit heute lassen sich auch die Esel wieder anfassen. Sie waren seit Silvester, als Dalheim wie alle anderen Dörfer unter Beschuss stand, ungewöhnlich schreckhaft. Die Lage des Dorfes im Talkessel verstärkt die Schüsse und Detonationen wie ein Schalltrichter.
Aber jetzt kann ich mich endlich wieder normal im Stall bewegen und brauche die Schüsseln mit den Heucobs nicht mehr vorsichtig am langen Arm in der Hocke an die Langohren heranzuschieben.
Lotte hatte im Übrigen gar nichts gegen den Kräutersaft darin. Sie wollte das Schüsselchen voll der würzig leckeren Masse einfach lieber als Nachspeise verputzen oder mal so zwischendurch.
Inzwischen hat sich das eingespielt. Ich lasse die Schwestern erstmal reichlich Heu knabbern, bevor ich ihnen die dampfenden Schüsseln vorsetze, möglichst weit auseinander, ich dazwischen. Sobald Rosalie aufgeschlungen hat und Lottes Schüssel anvisiert, schreite ich geschickt um deren Napf herum, so dass ich Rosie auf jeden Fall im Weg stehe, egal von welcher Seite sie so angelegentlich herangeschlendert kommt.
Ohne besonderen Grund habe ich den beiden immer dieselben Schüsseln hingestellt, Rosalie die mit dem geknickten Rand, auf dem vielleicht einmal ein Deckel gelegen hat, und Lotte die mit dem Karnies. Heute Morgen hat dann wohl Rosalie ausnahmsweise Lottes Schüssel erwischt. Lotte kam dazu und beide mümmelten erst einmal friedlich zusammen daraus. Das war jedenfalls meine menschlich romantische Sicht auf die Situation, Wunschdenken, wie sich herausstellen sollte. Es war wohl eher Lottes Art, Anspruch auf genau diese - IHRE - Schüssel zu erheben. Ist doch egal, dass da noch irgendwo eine andere, volle, steht. Weil Rosie das einfach nicht kapieren wollte, drängelte, schupste und buckelte Lotte sie fort: MEINE Schüssel!
Lottes Verhalten zeugt vielleicht nicht von Flexibilität, aber sie erkennt ihre Schüssel! Farbe gleich, Größe gleich, Inhalt gleich. Nur dieser winzige Unterschied oben am Rand. Ob sie den wirklich wahrnimmt oder ist da auch ihr individueller Duft drin?
Sie hat jedenfalls feine Sensoren, soviel steht fest. Dabei habe ich immer Rosalie für die Feinsinnigere der beiden gehalten und Lotte eher als Bollerkopp wahrgenommen. Man lernt seine Esel selbst nach zehn Jahren immer noch kennen.
13. Januar 2025


Katzenjammer
Eine Katze miaut da draußen langgezogenes Gejammer. Möchte sie rein ins schützende Zuhause bei der Nachbarin? Eben hat es einen Kampf gegeben, den ich nicht gesehen, nur gehört habe. Höchst aggressiv, wie es eben so klingt, wenn Katzen rollig werden. Als ob sie sich bis auf's Blut kratzen und beißen.
Die Tage sind jetzt wieder länger als acht Stunden, die Katzen paarungsbereit und geben sich kapriziös, was die Kater zu mögen scheinen.
Da wird es wohl im Mai neue Kätzchen geben. Sie sind ja auch unfassbar niedlich. Tierbabys eben. Hoffentlich möchte dann keines von ihnen bei uns wohnen. Ich bin ja sehr anfällig für große dunkle Augen in einem wuschelweichen Gesichtchen und Katzen können nun mal sehr überzeugend und durchsetzungsstark sein.
Aber seit dem Kassensturz am Jahresende habe ich es schwarz auf weiß, dass die Tierhaltungskosten meine Einkünfte durch das Arbeitslosengeld im Sinn der Nahtlosigkeit bereits übersteigen.
Nahtlosigkeit ist gesetzlich festgelegt und meint, dass niemand in Deutschland auch nur einen Monat lang ohne Bezüge auskommen muss. Wenn das Krankengeld, wie bei mir, ausgelaufen ist und die Deutsche Rentenversicherung sich noch nicht so recht dazu durchringen kann, Erwerbsminderungsrente zu zahlen, übernimmt die Agentur für Arbeit zwischenzeitlich mit ALG I den Lebensunterhalt, ohne auf Bewerbungen zu bestehen. Logisch, dass Tierarztkosten für Hunde, Esel und Katzen nicht mit abgedeckt werden.
Also kein Kätzchen. Lisa, KEIN KÄTZCHEN!
Das Theater da draußen erklärt, warum Josh seit ein paar Tagen morgens und abends im Dunkeln immer wieder plötzlich aufschreckt. Er hört es ja viel früher als ich. Erst verändert sich sein Muskeltonus. Der ganze kleine Josh ist prompt in Alarmbereitschaft, hebt den Kopf, lauscht. Vielleicht hat er sich ja verhört? Könnte doch sein. Aber nein, er muss da offenbar für Ordnung sorgen. Ist ja sein Revier. Also sprintet er in drei Sätzen ans Fenster und bellt da unten mal ordentlich Bescheid!
Hilft bloß nicht. Im Mai wird es kleine Kätzchen geben. Mit wuschelweichen Gesichtchen. Lisa, nein!
19. Januar 2025
Gefrierender Nebel
Die Esel haben gefrühstückt, erst das Heu, dann die eingeweichten Cobs. Noch eine Runde durch den Stall, um die Halme, die sie übersehen haben, einzusammeln. Auch wer in aller Gemütsruhe frühstückt, kann kleckern.
Dann ist aber wirklich alles aufgegessen. Ich habe selbst im Stall mein Brot und ein paar Orangenschnitze zu frisch aufgebrühtem Sommerblumentee gefuttert. Das muss sich Lotte jetzt genauer anschnüffeln, kommt mir mit ihrer Nase so nah ans Gesicht, dass ich schon denke, gleich kitzelt es wieder. Aber die Duftspur lenkt Lotte ab zur Butterbrotdose, in die sie nun aufreizend langsam ihre Nüstern schieben will. Kurz vor knapp drücke ich sie zu und die weiße Nase weicht.
Lotte ist bereit für den Tag und seine Abenteuer. So, was gibt's? Geht zur Tür, öffnet sie, streckt den Kopf hinaus: Guten Morgen lieber Tag, da bin ich! Steht und schaut, lange. Dreht wieder ab, zurück in den Stall: Och nö, ich bleib lieber drin. Hat sie dabei mit dem Kopf geschüttelt?
Draußen ist das Morgengrauen in frostigem Nebel erstarrt. Man kann kaum die Fichte sehen, geschweige denn irgendetwas Spannendes hören. Auch das verschluckt der Nebel.
Noch arbeitet er an den kunstvollen Kostbarkeiten, die er im Lauf des Tages preisgeben wird:
An allem, was draußen ist und kalt, lässt er spitze Nadeln gefrieren. Selbst die glatten Weidenzweige sind übersät mit weißen Dornen. Ich kann es kaum fassen. Von der Zaunlitze spitzen Zacken kreuz und quer, zarte Spinnenfäden sind wie mit dicker weißer Wolle umhäkelt, Wälder in Hagelzucker getaucht. Stacheldraht wirkt noch gefährlicher als er schon ist. Ich berühre eine seiner Eisnadeln, erwarte, dass sie schmilzt, aber sie bricht ab. Eine Zauberwelt, wieder einmal und doch immer anders.
20. Januar 2025


Einkehrtage
Diese Woche habe ich mir freigehalten, um zur Ruhe zu kommen. Die gut sechs Wochen ohne Heizung und Warmwasser im auskühlenden Haus hatten mich mürbe gemacht, das Wetter meine Muskeln ermüdet.
Die Aussicht darauf, meine Esel möglicherweise in fremde Hände geben zu müssen, dreht mir den Magen um, dazu drücken Rechnungen, obendrauf heute eine Zahnoperation bei dem kleinen Lottahund mit Sorgen, wie sie sie durchsteht. Noch ist sie nach der Narkose nicht wieder richtig wach geworden.
Verunsicherungen allesamt, die in Angst umschlagen. Weil Angst ein schlechter Ratgeber ist, mache ich in dieser Woche Exerzitien zum Psalm 23, denn ich brauche Beistand von oben.
Jeden Tag sinken andere Worte daraus ins Herz und erzeugen Resonanz: Mangel, Trost, erquicken, Barmherzigkeit, Salbe. Da räumt jemand so richtig auf in mir. Noch sind da keine Lösungen für die drängendsten Probleme, aber es ist einiges in Bewegung gebracht, vor allem Gedanken und zu guter Letzt finde ich sogar ein vergessenes Depot, aus dem ich die aktuellen Rechnungen begleichen kann.
Den Abschluss dieser erquickenden Woche werde ich morgen mit der Freundin aus dem Nachbardorf beim Schabbatessen feiern. Dafür bereite ich zwei orientalische Aufstriche zu.
Ich beginne mit Tahini, einer Sesampaste. Dafür gebe ich 200 g ungeschälte Sesamsamen in eine Pfanne und röste sie darin, bis die ölhaltigen Saaten heiß aufplatzen. Dabei knallen und springen sie in der Pfanne herum wie das hopsende Lieblingsnachbarkind auf dem Minitrampolin. So lustig es ist, ihnen dabei zuzuschauen, ist der Moment doch heikel, denn ruckzuck sind die heißen Hüpfer verbrannt und verkohlt. Also unbedingt gleichmäßig umrühren beim Rösten! Dann gebe ich sie in ein Einliter-Weckglas, gieße 100 ml Sesamöl an und häcksle beides mit dem Passierstab durch. Man könnte noch Gewürze einarbeiten, aber ich entscheide das erst, wenn ich weiß, wofür ich das Tahini verwende. So passt es zu süßen und pikanten Speisen.
Tahini ist auch Bestandteil von Hummus, dem Kichererbsenmus. Ich bereite es zum ersten Mal zu, es kann so schwierig nicht sein. Wie in meinem Kochbuch DIE JÜDISCHE KÜCHE von Annabelle Schachmes beschrieben, passiere ich dafür 250 g gekochte Kichererbsen, 1 Knoblauchzehe und 1 EL Tahini zusammen mit 4 EL Olivenöl und 4 EL Zitronensaft. Weil ich nur noch Rapsöl habe, muss es damit gehen. Nach der ersten Kostprobe würze ich noch etwas nach mit Salz, Kreuzkümmel und Curry. Das frische Mus beträufle ich dann wie Pesto mit weiterem Speiseöl, das es zusammen mit den Gewürzen in sattes Sonnengelb tunkt. Es schmeckt fremd, aber gut. Orientalisch eben.
Und Hildegard? Die würde juchzen, weil es so unfassbar bekömmlich ist.
23. Januar 2025
Der gedeckte Tisch
Die Challot, die jüdischen Schabbatbrote, kann ich nicht mehr backen, weil ich mit dem kleinen Lottahund notfallmäßig noch einmal beim Tierarzt war. Sie kann nichts fressen, alles purzelt ihr wieder aus dem wunden Mäulchen heraus, auch das Antibiotikum und das Schmerzmedikament. Die letzten vier entzündeten Zähne mussten entfernt werden. Dadurch hat die Zunge keinen Halt mehr und bringt nichts durch den Hals hinunter in das hungrige Bäuchlein hinein.
Die Tierärztin hat ihr die Medikamente jetzt gespritzt und sie ist gleich viel munterer. Auch versucht sie, ein wenig von ihrem Futter aufzuschlabbern, das ich jetzt stark verdünnt und passiert habe. Es gelingt ihr nicht. Irgendwann gibt sie auf, zieht sich zurück, kuschelt sich in ein Kissen unter dem Schabbattisch, um bei uns zu sein. Immerhin, sie konnte ein wenig schmecken.
Die Freundin hat einen köstlichen Dinkelstuten mit Korinthen gebacken, etwas Käse und Saft mitgebracht. Ich bereite noch schnell einen Salat zu aus 2 gekochten Roten Beten und 4 Büscheln Feldsalat aus dem Eselgarten, einer Hand voll Walnüssen aus dem Nachbardorf, einer Weinessigbeize, einer Orange und 125 g Feta, ja gut, aus dem Lebensmittelladen.
Dann geht die Sonne unter, wir zünden die Schabbatlichter an, der Ruhetag beginnt. Wir singen, lesen gemeinsam nochmal den Psalm, in dem der Hirt uns den Tisch bereitet, teilen dankbar Brot und Wein, bevor wir uns quatschend durch die leckeren Speisen futtern.
Wenn nur auch das Lottchen bitte bald wieder futtern könnte! Sie kann doch von ihren nur zwei Kilo Gewicht wahrhaftig nichts mehr entbehren.
24. Januar 2025


Was für ein Kampf
Seit dem Wochenende lege ich mir den abgemagerten Lottahund auf einem Spucktuch an die Schulter und spritze ihm mit einer kleinen Kanüle Fleischbrühe ins Mäulchen. Die drei Milliliter drücke ich in zehn Miniportionen vorsichtig heraus. Gierig leckt sie daran, hat Hunger und Durst. Ein Teil läuft wieder heraus auf das Spucktuch, Lottas Köpfchen sinkt entkräftet an meine Schulter.
Zwischen den mühsamen Fütterungsversuchen liegt mein Sorgenhund teilnahmslos im Körbchen. Geht sie? Ich bin nicht bereit dafür, werde es nie sein.
Nein, erst einmal nicht. Als ich Josh am Dienstagmorgen seinen Napf hinstelle, wackelt das kleine Flöckchen auf schwachen Beinen hin und schnappt, ausgehungert wie es ist, erfolglos, aber feste zu. Normalerweise erlaube ich das nicht. Sie hat ihren eigenen Napf. Aber das ist jetzt egal, nur gut, dass sie nicht aufhört, fressen zu wollen. Josh bekommt ein neues Schüsselchen, weil in Lottas Napf die unappetitliche Brühe schwimmt.
Tiere, die fressen, wollen leben. Das ist bei Menschen nicht anders. Lebenserhaltungstrieb. Meine kleine Kämpferin hat noch nicht aufgegeben.
28. Januar 2025
Eine Frage der Zeit
Die Sonne wärmt uns den Rücken und beleuchtet den verlassenen Steinbruch im Wald wie ein Bühnenbild. In der Wand haben sich die Blöcke in dicken Schichten abgesetzt, dazwischen tiefe Spalten. Ob der Uhu hier wohnt?
Davor ein ovaler Platz, auf dem die Quader gebrochen, behauen und verladen wurden. Ein alter Meilenstein am Weg, die Inschrift längst verwittert. Ich hebe das Lottchen aus dem Rucksack, damit es ein wenig herumschwanken kann.
Die Narkose ist noch nicht überstanden. Je älter sie wird, desto länger knabbert sie daran herum. Meist noch liegt sie reglos in ihrem Körbchen. Aber Sonne und Waldluft tun ihr gut. Sie pieselt sogar. Wenn das kein Grund zur Freude ist! Schließlich futtert und trinkt sie noch nicht wieder selbstständig. Aber etwas scheint sie durch die Spritze doch aufgenommen zu haben.
Auch Josh genießt es, nach den stürmischen Regentagen im verrottenden Laub herumzuwühlen. Findet sogar Rehküttel, kleine Wölfe gehören in den Wald!
Gut, dass wir diesen Platz gefunden haben. Auf dem kurzen Weg vom Auto hierher waren wir erst einem anderen Stück Pfad gefolgt, bis ich den Windbruch bemerkte. Eine Eiche mitten im einst so starken Stamm in zwei Teile geborsten, an der zersplitterten Bruchstelle noch ineinander verhakt. Daneben hat ein Eibensamen ausgetrieben. Schlanke Buchen hat der Sturm gegen ihre Verwandten geneigt. Noch halten sie. Wie lange? Wir sollten dort nicht sein, zu gefährlich, deshalb jetzt der Steinbruch mit der Sonne im Rücken, einen Sitzplatz für mich und aufrechten Bäumen, die heute nicht mehr umfallen werden.
Da ist es wieder, dieses tiefe Aufatmen.
30. Januar 2025


Weidenrinde gegen Schmerzen
Gerade so aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie sich Rosalie da hinten unter der Fichte mit unnatürlich weit gespreizten Beinen wieder in den Stand zu stemmen versucht. Ist sie ausgerutscht? Es sieht sehr mühsam aus. Auch schmerzhaft, wie sich herausgestellt, denn Rosie humpelt. Nicht auch das noch. Dieser Winter ist nicht unserer. Wenigstens futtert und trinkt das Lottchen endlich wieder selbstständig, ist auch wieder viel agiler.
Was kann ich jetzt für Rosalie tun? Zerrungen heilen so quälend langsam. Am linken Hinterbein unterhalb des Sprunggelenks ist sie schmerzempfindlich, zuckt schon bei sanfter Berührung.
Vor Jahren habe ich ein paar Weidenstecklinge an den Zaun des Eselgartens gesetzt. Sie haben schnell ausgetrieben, schon Ruten für Kränze geliefert. Jetzt muss die Rinde ihre schmerzlindernde Wirkung entfalten. Welche Dosierung, welche Darreichungsform? Ich finde nichts darüber, muss es also ausprobieren.
Erst einmal halte ich Rosalie einen Zweig zum Knabbern hin, bitte schön! Aber nein, was die Esel ratzekahl abknabbern würden, wären die Bäumchen für die Esel frei zugänglich, möchte sie ersteinmal nicht, nö danke.
Wie bekommt man etwas in einen Esel hinein, was er nicht futtern will? Jedenfalls nicht mit Gewalt, denn nichts zerstört Vertrauen so gründlich. Also schummle ich ihr kleine Stückchen in die Cobs. Sieht man fast gar nicht mehr, klappt bestimmt, hurra! Aber mein Eselchen spürt doch, dass da etwas nicht stimmt, untersucht die harten Knöpfchen in dem Brei mit den unbestechlich empfindlichen Lippen und entscheidet sich dagegen. Ich höre es in der Schüssel klimpern, als die Stücke wieder hineinfallen.
Also schrappe ich die nächsten Zweige wie Möhren. In dem eingeweichten Heu zieht die Rinde jetzt wie Tee. Interessiert Rosalie, sie schnuppert, dreht wieder ab. Nicht ihr Geschmack.
Hm.
Erstmal die Schüssel beiseitestellen. Rosalie stakt, du glaubst es nicht, der Schüssel hinterher, senkt den Kopf und malmt. Na also, grinse ich, wofür man sich anstrengen muss, noch dazu mit einem wehen Bein, schmeckt gleich viel besser. Das kenne ich doch von meinen Gemüsebeeten im Eselgarten!
2. Februar 2025
Herbstlaub
Jedes Jahr im November schaue ich auf das herabgesegelte Laub meines Hausbaums, dem Ahorn, und denke gemütlich: es hat sich schon jemand etwas dabei gedacht, dass es herunterfällt. Es nährt die Bodeninsekten, die es zu frischem Humus verarbeiten, der wiederum den Boden erfrischt und seiner Abtragung entgegenwirkt. Ich kann meine Kraft also für etwas anderes verwenden als zum Laubkehren.
Jedes Jahr im Januar sehe ich, dass die Stürme das nasse Herbstlaub gegen den Hundezaun geweht haben und denke: Sieht nicht schön aus, schützt aber bestimmt die Krokus- und Schneeglöckchenzwiebeln darunter in der Erde.
Dann kommt der Februar und ich bin die graue Kälte da draußen so dermaßen leid, dass ich mich an Sonnentagen durch die Laubberge grabe, Natur hin oder her, und frische grüne Spitzen darin finde.
Nein, um ehrlich zu sein sind es gelbe Spitzen, denn in so einer dicken Laubpackung kann kein Austrieb Photosynthese betreiben, also gar kein Chlorophyll, den grünen Farbstoff der Pflanzen, produzieren.
Höchste Zeit, das Laub wegzuräumen. Also heute!
Die Mistgabel habe ich schon aus dem Stall mitgebracht. Sie lehnt an der Schubkarre. Sieht sehr motiviert aus. Die Nachbarn müssen denken, dass es gleich, zeitnah, also sehr bald schon, losgeht.
Wenn mir nur nicht so kalt wäre! Ich liege unter zwei Bettdecken, die Füße stecken in zwei Paar Socken. Trotzdem sind sie seit Stunden kalt, denn Omas Wärmflasche ist kaputt, nicht mehr ganz dicht!
Ja gut, ich würde durch Bewegung warm. Aber es ist ja schon fast Mittag. Eseln war ich schon ganz früh. Ich liege doch nicht seit gestern Abend hier, also wirklich!
Es macht vielleicht doch mehr Sinn, erst einmal zu kochen und etwas zu essen. Bis dahin schaut dann endlich auch die Sonne ums Hauseck und wärmt die Zimmer durch die großen Südwestfenster. Noch ein wenig später wird sie um die nächste Hausecke blinkern und den Vorgarten in warmes Licht tauchen, den mit dem vielen Herbstlaub.
Ich bleibe hier einfach noch ein bisschen liegen, irgendwann muss ich doch mal warm werden. Außerdem liegt das fast genesene Hundelottchen eingekrümelt auf meinem Schoß, vor sich hin schlummernd, bis es wieder das Köpfchen hebt und meinen Blick sucht. Bist du noch da? Ja, bin ich und bleib es auch erstmal. Mir wird bestimmt gleich warm. Muss ja.
Und sinniere so vor mich hin, was ich denn mal kochen möchte. Schnitzel vom Riesensellerie mit etwas Zitrone beträufelt und zerstoßenen Pfeffer darüber gestreut gab es schon die letzten beiden Tage. Könnte ich immer essen, aber ich will mich ja abwechslungsreich ernähren. Also Kürbis-Linsensuppe, au ja. Gleich wenn mir zum Aufstehen warm genug ist.
Und danach fege ich Laub, ganz bestimmt.
3. Februar 2025


Sparen oder verdienen?
Die Adresse eines interessierten Eselkäufers liegt schon vor. Er führt einen Heidschnuckenhof mit einer Eselherde. Das klingt ja eigentlich richtig gut. Eigentlich. Trotzdem drehe ich vehement abwehrend an den letzten Stellschrauben. Der Kühlschrank ist schon seit Wochen ausgeschaltet, um Strom zu sparen. Die Heizung, die Gottlob wieder läuft, steht auf 16 Grad, die Mindestwärme, um Schimmelbildung zu vermeiden. Ich dusche nur noch samstags und spare an den anderen Tagen dank meiner neu erworbenen Waschkenntnisse an der Schüssel Wasser. Ich bin ja leider eine Langduscherin. Ich kann nichts dafür. Wenn ich da stehe, komme ich nicht wieder weg, nix zu machen! Meine Vermieter und Verwalter waren immer schon erstaunt über meinen Wasserverbrauch, aber damit ist jetzt Schluss! Für Josh werde ich eine Krankenversicherung abschließen. Die nächste Zahn-OP kommt ganz sicher. Ein Freund übernimmt die Zahlung. Darf ich es noch einmal schreiben? Was bin ich gesegnet mit Freunden.
Nicht nur wegen ihrer Finanzspritzen.
In den letzten Tagen häuften sich auch Gespräche, die auf den erlaubten Zuverdienst zum Arbeitslosengeld als geringfügig Beschäftigte abzielten. Eine oder zwei Stunden pro Tag zweimal in der Woche könnte ich Bettlägerige oder Sterbende betreuen. Dazwischen zwei und drei Tage ausruhen. Das würde mein Konto ein wenig entspannen. Mein Arzt jubelt, mein Arbeitgeber bastelt schon am Vertrag, doch nein, es geht nicht. Ich bin krankgeschrieben. Deshalb bekomme ich ja auch keine Stellenangebote, entweder ganz oder gar nicht. Ich weiß nicht, wie sich die Arbeitsagentur das vorstellt, und die angefragten Mitarbeiterinnen wissen es auch nicht.
Nein, dieser Winter ist nicht meiner. Vielleicht doch der Heidschnuckenhof? Ich würde Rosalie und Lotte eine Eselherde wünschen, denn irgendwann wird eine von ihnen übrigbleiben. Dann wäre es schön, wenn sie schon Freunde zum Trösten hätte.
5. Februar 2025
Hoffnung 1
Plötzlich nimmt der Tag Fahrt auf. Es ist, als ob Menschen aus allen Richtungen gleichzeitig nach dem Sprungtuch greifen, um meine Tiere aufzufangen, wie schon einmal im vergangenen Herbst.
Zuerst telefoniere ich mit dem Betreiber des Heidschnuckenhofs. Er weiß ja noch gar nicht, dass es meine Esel und mich überhaupt gibt, und ich möchte einen ersten Eindruck von ihm gewinnen. Es wird ein gutes Gespräch. Er arbeitet mit der IGEM, der Interessengemeinschaft für Esel- und Mulifreunde, zusammen, nimmt Esel auf, deren Halter sie wegen Krankheit oder aus anderen Gründen abgeben müssen. Vermittelt sie weiter mit einer Rückkaufoption, damit sie nicht immer weiter gereicht werden, wenn es im neuen Stall dann doch nicht klappt. Das ist meine allergrößte Sorge.
Wander- und Kutschesel behält er allerdings, um mit ihnen zu arbeiten. Das träfe auf meine Eselchen zu. Das Beste ist, dass ich mich nicht sofort entscheiden muss. Wir verabreden uns für Mitte Mai auf seinem Hof, wenn ich auf dem Rückweg von einem Kurzurlaub im Oldenburger Land bei ihm vorbeifahre. Puh. Gnadenfrist. Ich will noch einen Eselsommer erleben, am besten zwei. Oder drei. Es ist gut, diese Telefonnummer zu haben.
Danach meldet sich die Freundin aus der Nachbarstadt. Sie möchte mit mir zusammen wieder einen Eselpilgerweg anbieten, in diesem Heiligen Jahr einen Pilgerweg der Hoffnung.
Was ist eigentlich Hoffnung? Ich weiß nur, dass sie mir in diesem Winter ein paar Mal beinahe verloren ging. Hoffnung, so lese ich bei Wikipedia, ist eine zuversichtliche innerliche Ausrichtung, gepaart mit einer positiven Erwartungshaltung, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird, ohne dass wirkliche Gewissheit darüber besteht. Sehr viele Menschen haben sich dieselbe Frage gestellt, denn der Artikel ist als häufig gelesen gekennzeichnet. Sehr spannend!
Für sich und das Patenkind bucht sie noch einen Eselspaziergang. Weitere sind vorgemerkt und zum Teil schon terminiert.
Auch die Esel haben seit heute eine Patin, die sie unterstützt. Wir hatten vor Jahren in einer Tierarztpraxis gemeinsam erlebt, wie das Mädchen aus einer Jugendwohngruppe überschwänglich plappernd mit dem geliebten Kaninchen hereinmarschierte und nach einer bedrückend langen Zeit ohne es wieder aus dem Behandlungszimmer herauskam. Wir teilten ihre Fassungslosigkeit und hörten ihren Tränen zu.
Mit Hilfe ihrer Patenschaft werde ich die nächste Heulieferung bezahlen können, die mir schon seit Tagen etwas schwer im Magen liegt.


Hoffnung 2
Kurz darauf meldet sich der Arbeitgeber mit einer Lösung für die Crux mit der Anstellung im Krankenstand. Ich darf arbeiten, es ausprobieren und weiß, wusste schon immer, dass ich einen außergewöhnlichen Arbeitgeber habe.
Keine Stunde später fragt der Eselbeauftragte einer Evangelischen Kirchengemeinde in der Kreisstadt - ich höre ihn durch das Telefon schmunzeln - Rosie und Lotte als Palmesel an. Die Gemeinde organisiert den Transport und ist durch jahrelange Palmeselpraxis für Langohren sensibilisiert. Der letzte ist nach jahrelangem Dienst in den Ruhestand gegangen, der Esel, weshalb meine beiden Lieblinge in den Fokus rücken, damit die Palmeselpilger nicht, wie seit dem Spätmittelalter üblich, einen hölzernen Ziehesel basteln müssen.
Werden da gerade meine Esel berufen? Jesus schickte laut Bericht des Evangelisten Matthäus (21, 1-11) seine Jünger - quasi seine Eselbeauftragten - in ein Dorf - warum nicht nach Husen? - in dem sie eine Eselin mit ihrem Füllen finden würden und mitnehmen sollten. Die kleine Wuschellotte geht ja locker als Fohlen durch! Sollte der Besitzer - in diesem Fall bin das ja ich - Einwände haben, sollten die Jünger antworten: Der Herr braucht sie.
Ich habe absolut keine Einwände, dass Er sie braucht.
Sie sollen ganz offenkundig bei mir bleiben, uns werden Türen geöffnet, und ich überschlage mich auf dem Sprungtuch, um mal im Bild vom Anfang zu bleiben, denn da ist plötzlich so viel Energie, wachsende Hoffnung auf meinem persönlichen Eselpilgerweg, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird, ohne dass wirkliche Gewissheit darüber besteht.
Denn ob Rosalie und Lotte in den Anhänger steigen, eine Prozession anführen werden statt sie anzuschauen, ist ganz sicher wünschenswert, aber wirklich nicht gewiss.
Aber seiner Berufung kann man ja nicht entgehen. Auch Esel nicht.
11. Februar 2025
Das Gartenjahr beginnt
Schwärme von Kranichen sind schon seit Wochen unterwegs nach Norden und Osten, obwohl es immer noch sehr kalt ist. Die Frühblüher drängen unaufhaltsam aus der Erde, nicht in die Wärme, denn die ist ja nicht da, sondern ins Licht.
Auch mich zieht es so langsam wieder in den Garten. Die Aussaat muss wohl überlegt werden, denn nicht jedes Gemüse verträgt sich miteinander, nein nein. Bohnen finden ja Erbsen und Knoblauch so unausstehlich, dass sie sich selbst tatsächlich schlechter entwickeln, wohingegen Möhren everybody's darling sind. Ich folge da schon seit Jahren einer Tabelle von guten und schlechten Gemüsenachbarn von Michael Lohmann, der seine Kenntnisse und Erfahrungen 1983 als DAS NATURGARTENBUCH veröffentlicht hat.
Bei der Auswahl der Gemüsesorten berät mich in diesem Eselgartenjahr erstmals Hildegard von Bingen. Es muss ja nicht noch einmal Grünkohl ein Dreivierteljahr lang Beete besetzen, der mir am Ende gar nicht gut tut. Denn das hat sich herausgestellt: meine Unverträglichkeiten haben sich nicht willkürlich entwickelt. Es sind genau die Nahrungsmittel, die die Ordensfrau als Küchengifte bezeichnete, die bei mir unangenehme Reaktionen hervorrufen: Erdbeeren, ja ich weiß, schrecklich, Zwetschgen, mein Garten ist voll davon und Lauchgewächse. Dazu kommen die Lebensmittel, die Kranke nicht vertragen.
Es wird deshalb ein Beet mit Möhren, Erbsen, Knoblauch, Pastinaken und Salat geben. Die sind nett zueinander, vertreiben sich sogar gegenseitig die Schädlinge.
Ins gegnerische Bohnenbeet setze ich Mangold, Melde, Spinat, Rote Bete, Sellerie und Hildegards Wunderkraut, die Petersilie.
Dazu kommen in die kleineren Beete Zucchini und Kürbisse.
Soweit mein Plan.
Für die Beete der Starkzehrer, Kürbis und Zucchini, haben die Esel bereits nach Kräften Dünger hergestellt, der eingebracht werden kann, sobald der Boden und ich aufgetaut sind.
Das wird sich aber vielleicht noch ein bisschen hinziehen, denn leise rieselt der Schnee. Rosalie schlendert vor die Stalltür, möchte sehen, was sie hört, und bestimmt fühlt sie auch die zarten Flocken, die sich auf ihren Rücken setzen. Verharrt, hat alle Zeit der Welt, um das Geriesel mit allen Sinnen zu erfassen.
Die Möhrchen müssen noch warten.
13. Februar 2025


Liebeslieder
Weißt DU, wie es jetzt weitergeht? fragt die Dame im Rollstuhl ihre Nachbarin im Stuhlkreis immer, wenn ich die sorgfältig gewählten Überleitungen zum Besten gebe. Sie versteht sie nicht. Also nicht so viel reden, - singen!
Mit den Liebesliedern zum Valentinstag lasse ich in einem nahen Altenheim einen Testballon steigen. Kann ich noch mit einer Gruppe älterer und dementiell veränderter Menschen singen, uns auf der Gitarre begleiten? Um es vorweg zu nehmen: es war keine Glanzleistung, trotzdem ein wunderschöner Nachmittag.
Die Gruppe ist so bunt zusammengewürfelt, wie es Notgemeinschaften eben so sind. Da ist einer, dem die Liebe nicht geheuer ist und der schon wieder wegrollt, bevor ich überhaupt mit den Tulpen aus Amsterdam losschunkeln kann. Gegenüber die Dame, die die Sache selbstsicher in Angriff nimmt: Kenn' ich alle, die Lieder! Schätze des Orients, ja, sicher! Sie wird nicht mitsingen. Der Herr links von mir muss erst ein wenig warm werden, aber dann perlen Koloraturen aus ihm heraus, dass ich fast die Klampfe fallen lasse.
Ein paar Plätze weiter der Wortführer, der jedes Lied mit beängstigend präzisem Expertenwissen bereichert. Wer ist dieser Mann? Ein politischer jedenfalls. Auf seinem Hoodie prangt das Bild vom Bruderkuss zwischen Breshnev und Honecker 1979 in Berlin, darunter beißende Satire: Gerade so überlebt. Weiter kann ich den Kommentar nicht lesen. Fast hinter mir, weil später gekommen, eine Frau, die mitsingt, wenn ihr der Text gerade bekannt vorkommt. Sie lächelt auf so liebevolle Weise Fröhlichkeit in die Runde, dass ich sie immerzu anschauen möchte. Und dann die Damen, die so zurückhaltend leise mitsingen, dass ich sie nicht hören kann. Aber ich lese von ihnen Lippen ab: Ja, das ist Kufstein am schönen Inn! Hollala didi didi didi...
Und ich? Manche Liedzeile kann ich nicht zu Ende singen, weil die Luft nicht reicht. Die Stimme bricht ein paar Mal, auf der Gitarre treffe ich nicht immer die richtigen Saiten. Dabei habe ich in den letzten Wochen so viel geprobt!
Ach ja, PEM, die Verschlechterung nach Belastung, gute Güte, wie peinlich. Fast möchte ich mich entschuldigen, als ich nach 40 Minuten aufhöre. Aber so schlecht war es vielleicht gar nicht, denn der Herr mit der brillierenden Stimme rollt auf mich zu, ringt mit Worten, fasst sich an die Brust, folgt mir in den angrenzenden Raum des Sozialen Dienstes. Der hat mich zu einer Valentins-Herzchenwaffel und Kaffee bei einem netten Austausch unter Kolleginnen eingeladen. Es dauert über eine halbe Stunde, bis der Sänger seine Erinnerungen sortiert,- Worte dafür gefunden hat, dass er unter dem Organisten Sowieso im Militärchor gesungen und Trompete gespielt hat. Und eine oder seine Frau konnte singen! Soooo schön, dass er es bis heute nicht fassen kann.
Dass dieser Herr und vielleicht noch andere, die es mir heute nicht erzählen, sich an ein schönes Leben vor der Pflegebedürftigkeit erinnern, ist wichtiger als maximal schön zu singen und zu spielen. Noch bevor ich nach Hause japse, weiß ich wieder, dass ich den schönsten Beruf der Welt hatte.
14. Februar 2025
Strahlfäule
Esel Lottes Huf gefällt mir nicht. Der Strahl ist schwarz und jeden Tag verschwindet ein Stückchen davon einfach so. Den Begriff Strahlfäule habe ich schon gehört, aber noch nie welche gesehen und obwohl Lottes Huf nicht nach Fäulnis riecht, muss doch so etwas in der Art dahinterstecken. Dabei waren Lottes Hufe immer gesund, wirklich immer. Ganz anders als die ihrer Schwester. Was tun?
Ich lese, dass man ihn mit Wasserstoffperoxid desinfizieren soll und sauber halten muss. Das Desinfektionsmittel habe ich sogar, seit ich mich bei Equidenkrankheiten erst einmal von der Freundin aus dem Dorf beraten lasse, bevor ich die Tierärztin bemühe und bezahle. Sie rät mir jetzt auch, Rosalies Hufschuhe zu benutzen, um den Huf trocken zu halten.
Dass ich auf die einfachsten Dinge nicht selber komme! Ich hatte für die elegante Eselin mit den empfindsamen Füßen vor Jahren mal Hufschuhe maßschneidern lassen, die dann aber leider doch einen Millimeter zu eng und zu kurz waren. Hufe kann man nicht in zu kleine Schuhe quetschen, keine Chance.
Jetzt kommen sie Lotte zu Gute, falls ich es schaffe, Fräulein Rührmichnichtan zu behandeln. Denn wenn ich die Hufe der Damen säubere, muss ja immer erst einmal Rosalie herhalten, damit Lotte sieht, dass sie es überlebt. Dann nähere ich mich langsam dem Lotteesel, rede mit ihr, streichle sie und fahre zufällig am ersten Bein hinab, das sie dann nach sorgfältiger Abwägung bereitwillig hebt. Aber wirklich nur, wenn Rosalie vorher meine guten Absichten getestet hat.
Also hebe ich jetzt zuerst hier und da Rosies blitzsaubere Hufe, beschäftige mich irgendwie damit, bevor ich mich Lotte zuwende. Tatsächlich darf ich den Sorgenhuf desinfizieren und ihr den Schuh überstreifen, den ich mit einer sterilen Kompresse aus dem Autoverbandskasten ausgelegt habe. So einfach war das! Ich muss mich schon wieder wundern. Und schick sieht er aus, der Schuh!
Jetzt bitte gesund werden, ja?
15. Februar 2025


Katzenpullis und Eselschuhe
Darf ich das jetzt bitte wieder ausziehen? scheint der Blick zu fragen. Er modelt super brav mit dem schicken Pulli, der gerade fertig geworden ist, obwohl er es wirklich hasst, das Strickding zu tragen.
Diesmal ist es aber nicht für Josh, da hat er mächtig Glück gehabt, sondern für den Kater der Freundin aus dem Dorf, der so ungefähr die gleiche Größe hat. Er musste geschoren werden, weshalb er jetzt furchtbar friert.
Er ist nicht der einzige, denn da gibt es noch einen taubenkleinen Hahn in ihrem Stall, den irgendeine Henne oder eine Krankheit, so genau weiß ich das nicht mehr, ganz arg gerupft hat. Nun duckt er sich in frostigen Nächten ins Stroh statt mit den Hühnern auf der Stange zu schlafen, um sich einigermaßen warm zu halten. Auch er soll einen Pulli bekommen. Für Hühner gibt es ja schon Strickanleitungen, weil aus den großen Ställen gerettete Legehennen fast nackt zu ihren Retterinnen und Rettern kommen. Die Pullis tragen sie dann, bis neues Gefieder nachgewachsen ist und ein neues, eigentlich überhaupt erst das richtige, Leben beginnt.
Für das Kleidungsstück des kleinen, wirklich sehr kleinen, Hahns wollte die Freundin eigentlich heute Abend Maß nehmen. Doch der arme kleine Kerl schlief schon, an seine Freundin gekuscht. Da muss man ja nicht stören! Morgen ist auch noch ein Tag.
Katzenpulli ausgeliefert, weiter geht es zu den Eseln. Was ist falsch bei Esel Lotte? Der Schuh ist futsch! Ich schaue mich um, erst im Stall, doch da ist kein Schlappen weit und breit. Lotte tut natürlich so, als wäre überhaupt nichts. Also suche ich draußen weiter, bis ich ihn ganz hinten, fast am Ende des Weges zur Fichte, tief im Schlamm stecken sehe.
Da hat Lotte bestimmt einen Schrecken bekommen, als die Matsche plötzlich ihren Fuß ansaugte und nicht mehr frei gab. Ich muss an einen Ostseeurlaub denken, in dem meine Schwester und ich als Kinder unterhalb der Steilküste in einer zähen Lehmgrube steckenblieben. Das war auch ein Schreckmoment, aus dem wir erst entkamen, als wir den einen Gummistiefel opferten und ohne zurück zur Ferienwohnung humpelten.
Gut, dass Lottes Huf sich da aus dem eigentlich sehr eng anliegenden Schuh herausarbeiten konnte. Mit einem Schmatzen gibt der Schlamm das teure Stück nun wieder frei, das jetzt erst einmal trocknen muss, bevor ich es Lotte wieder anziehen kann. Denn er soll ja den Huf trocken, nicht feucht halten.
17. Februar 2025
Sie mag Esel
Ab heute tragen die Esel wieder zu ihrem Unterhalt bei. Die Freundin hat das Patengeburtstagskind, dessen Bruder und Mama mitgebracht.
Von Anfang an haben die beiden Kinder, 9 und 11 Jahre alt, ganz viele Eselfragen, manchmal auch gleichzeitig. Denn wenn man etwas ganz unbedingt wissen will, kann man nicht immer auf das Geschwisterkind Rücksicht nehmen. Dazu ist die Frage einfach zu wichtig.
Weil mich ihr Interesse so freut, versuche ich, alle so gut es geht zu beantworten. Nur bei der Rosse komme ich ein ganz klein wenig ins Schwimmen und bei der Kastration, durch die sich ja der Wallach vom Hengst unterscheidet. Aber da hilft die Mama dann ein bisschen.
Das Geburtstagspatenkind geht mit Rosalie und der Patentante vorneweg, ein gutes Team. Immer mal wieder höre ich das Kind da vorne zärtlich Ich mag Esel sagen.
Bis, ja, bis Lotte sich vor irgendetwas erschrickt, einen Satz zur Seite macht und den Überraschungseffekt bei dem Bruder zu einem kleinen Ausflug in die Wiese nutzt, die sich in die Senke zwischen ein paar Blockhäuschen schmiegt. Da kann man sich als einigermaßen vernünftiger Esel schließlich nicht einfach dran vorbeiwandern lassen.
Das Kind kann Lotte nicht mehr halten und auch wenn man vorher gezeigt bekommen hat, was man in einer solchen Situation machen soll, fällt einem sowas ja wohl nicht ein, wenn ein gänzlich unvertrauter Esel so plötzlich losrennt. Also lässt er los, bevor er hinterherfliegt. Richtig so!
Rosalie lässt sich das nicht zweimal zeigen. Als gute große Schwester gehört sie jetzt an Lottes Seite und die beiden genießen das Spiel, das jetzt kommt. Wir schleichen uns an, umzingeln oder ignorieren sie, testen den Herdentrieb, bis Lotte entscheidet, dass die Mama der Kinder jetzt ihren Strick nehmen darf, um die Esel wieder nach Hause zu führen.
Trotz des Schreckens bleibt das Patenkind dabei: es mag Esel. Ich auch. Und ich mag Kinder, die Esel mögen.
21. Februar 2025


Ein Sack voll Flöhe
Liebevoll hebe ich das Hundelottchen von ihrem Kissen hoch. Dort zurück bleibt ein kleines schwarzes Tierchen, das sich flugs ein neues warmes Plätzchen sucht, jetzt, wo das Lottchen nicht mehr auf ihm sitzt. Ein Floh.
Ich packe ihn zwischen Daumen und Zeigefingerkuppe, drücke fest zu, während ich zum weißen Waschbecken im Bad marschiere, wo ich ihn besser sehen kann. Jaja, er versucht, sich freizustrampeln, aber da kennt er mich schlecht! Mein Daumennagel knackt ihn schneller als er hüpfen kann. Als nächstes nehme ich Lotta unter die Lupe und - verflixt - da sind noch mehr auf der Flucht zwischen ihre Zehen und hinter die Ohren, dorthin, wo es so herrlich gemütlich ist in Lottas Kuschelfell.
Vergesst es, euch werd' ich's zeigen. Zuerst schnippel ich Lottchens Fell ratzfatz kurz. Wo immer mir ein Krabbeltier in die Quere kommt, macht mein Daumennagel kurzen Prozess. Lotta mag es ja überhaupt nicht, wenn ich ihr das Fell schneide. Für sie ist das Körperverletzung. Sie beginnt zu zittern, versucht, sich unter meinen Händen hindurchzuwinden, würde sich sogar vom Frisiertisch stürzen, wenn ich nicht aufpassen würde.
Josh, der gute, hat Mitleid mit ihr, schaut mit seinen großen warmen Hundeaugen zu ihr hinauf und würde so gerne helfen. Andererseits bestünde, wenn er Lotta beim Trösten zu nahekäme, natürlich die Gefahr, selbst unter die Schere zu geraten. Eine Zwickmühle. Als er merkt, dass er nicht aus ihr herausfindet, lenkt er sich ab, indem er uns beide gegen die Gefahren verteidigt, die ja praktisch überall lauern. Sehr aufgeregt, also laut.
Dann ist die Tortur beendet, zahlreiche Flöhe haben ihr Leben gelassen. Die übrigen vertreiben wir mit einem scharf riechenden Shampoo. Das Geraniol darin zerstört den Chitinpanzer der Übeltäter. Dem Lottchen bleibt heute nichts erspart, den Flöhchen aber auch nicht! Sie schwimmen vollkommen erledigt mit dem Waschwasser davon. Lottchen zum Trocknen in den Pulli verpackt und dann...
Josh steht ganz dicht vor der Haustür, die ja doch bloß ich öffnen kann. Aber da ist diese Sache mit der Hoffnung. Er hat die innere positive Erwartungshaltung, dass sich die Tür wie durch ein Wunder öffnen wird und er verschwinden kann, ohne dass darüber jedoch Gewissheit bestünde. Diese Hoffnung muss ich dem tollen kleinen Hund jetzt leider nehmen, packe ihn, hebe ihn ins Waschbecken und dann beginnt auch bei ihm die Entflohungsprozedur.
22. Februar 2025
DER SALZPFAD
Diese Woche wird eine besondere. An zwei Tagen werde ich probeweise wieder in der Seelsorglichen Einzelbetreuung im Altenheim arbeiten. Zweieinhalb Stunden sind jeweils angesetzt. Ich bin skeptisch, ob ich die schaffe, weil ich nach der Singstunde Symptomverschlechterungen hatte und auch der schöne Esel-Interview-Spaziergang Spuren hinterlassen hat. PEM.
Also muss ich heute sehr sorgfältig pacen, wenn ich die Arbeit morgen schaffen will. Kein Bildschirm, keine Eselgartenarbeit, Liegen. Na gut, im Sitzen.
Wie schön, dass da ein Buch auf mich wartet, denn Lesen geht und irgend etwas muss man ja schließlich tun. DER SALZPFAD von RAYNOR WINN. Die Autorin, die mit ihrem Mann eine kleine walisische Farm mit Gästehaus betreibt, verliert durch den Betrug eines falschen Freundes Haus und Arbeit. Obwohl das an Schicksalsschlägen ja schon reicht, erhält ihr Mann noch eine niederschmetternde Diagnose. Nunmehr obdachlos und der eine totkrank, schultert das Paar, Eltern erwachsener Kinder, die Rucksäcke aus Jugendtagen und beginnt, den South West Coast Path zu bewandern. Er wird es um die Südwestspitze Englands herumführen. Jeden Donnerstag bekommt es 45 Pfund, meist weniger, überwiesen, weil sie vergessen haben, irgendeine Abbuchung zu kündigen, was wiederum bedeutet, dass sie Kälte, Hunger und Durst ausgesetzt sind und, ja, die Not sie auch mal zu Dieben werden lässt. Sie erleben, dass es einen Unterschied macht, ob man mit einem Zuhause im Hintergrund zeltet oder ohne, auch für die Menschen, denen sie begegnen.
Sie schreibt ungeschönt, trotzdem lustig. Da ist die tagelange Fudge-Diät, weil es weit und breit nur einen Süßkramladen gab und Fudge am billigsten war. Und immer wieder teilen die beiden das letzte, was sie haben: mal einen Weingummi zum Frühstück, ein anderes Mal das letzte Ibuprofen.
Das Buch rührt bei mir an eine irrationale Angst, die ich zu deckeln versuche. Allerdings ist mein vorläufiger Plan B keine Wanderung, sondern ein Wohnwagen oder die Hütte im Eselgarten. Mein Häuschen würde ich vermieten, bevor ich es verliere. Vorbild ist der alte Mann, der vor 35 Jahren in dem Dorf an der französischen Verdonschlucht sein Haus im Sommer Feriengästen zur Verfügung stellte. Uns. Es waren unbeschreiblich schöne Sommer dort voll Sonnenlicht und blauem Himmel, dessen Farbe sich am Grund der Schlucht mit dem Ocker der Felsen zu türkisgrünem Wasser vermischte. Nur dass mein Häuschen nicht an der Verdon-, sondern an der Altenauschlucht liegt.
Dass der Einband dem Paar eine Zukunft verspricht, lässt mich weiterlesen.
24. Februar 2025


Der Fichtenpfad
45 Pfund zu zweit. Das ist etwa soviel, wie auch ich für den Wocheneinkauf habe. Für mich und die Hunde, auch donnerstags. Aber ich habe ein Zuhause. Ja, das macht einen sehr großen Unterschied.
Rosalie hat wieder Beinweh. Es ist schlimmer als beim letzten Mal. Die hintere linke Fessel ist warm und tut ihr so weh, dass sie damit nicht mehr auftreten mag. Erst einmal sperre ich den langen Weg zur Fichte, denn wenn Lotte losmarschiert, wird Rosalie versuchen, ihr zu folgen. Esel gehen nun mal zusammen durchs Leben. Das muss ja nicht sein mit nur drei Beinen. So kann ich auch Lotte mal wieder den Schuh anziehen, ohne ihn nachher aus dem verschlammten Pfad ziehen zu müssen.
Die Wasserschüssel schiebe ich in Rosies Nähe, damit sie nicht hinhüpfen muss.
Als ich zur Mittagsversorgung komme, liegt sie auf der Fläche vor dem Stall. Das macht sie dort sonst nie. Sehr langsam nähere ich mich ihr. Bloß nicht das verletzte Tier aufscheuchen. Ich würde ihr das Futter auch vor der Nase servieren, aber nein, sie wuchtet sich hoch, streckt sofort das schlimme Bein nach hinten weg. Ich schätze, der Huf puckert. Weil Wärme durch Entzündung entsteht, habe ich eine große Packung Quark mitgebracht, schmiere ihn auf einen Streifen Mull und wickle es ihr um die Fessel. Bilde mir ein, hoffe, dass es ihr guttut. Mein Notfallkasten ist gefragt in diesen Wochen. Fixiert mit selbstklebendem Verband muss das Kasein im Quark jetzt bitte die Entzündung da herausziehen.
Am Abend STEHT Rosalie vor dem Stall, den schlimmen Huf auf dem Boden abgestellt. Sie kann ihn sogar ein klitzekleines bisschen belasten. Der Quark scheint zu helfen. Also erneuere ich den Verband, der alte ist zu Klumpen getrocknet.
Futter dich satt, dann leg dich hin und schlaf gut, meine Schöne.
24. Februar 2025

Die Kraft der Krankheit
Was ist mein Fazit nach zwei Probearbeitstagen? Es waren erfüllte Stunden mit guten Gesprächen, intensiver als früher.
Meine Erkrankung hat meine Arbeit verändert. Ich muss mir nicht mehr vorstellen, wie es sich für dementiell veränderte Menschen anfühlt, nach Worten zu suchen, die Orientierung zu verlieren, durch zu viele Reize überfordert zu sein. Ich WEIß es jetzt. Deshalb reagiere ich anders. Ich rede noch weniger, höre mehr und verstehe. Bin jetzt eine von ihnen. Aus der Betreuung ist Begegnung geworden, auf Augenhöhe. Hatte ich so nicht erwartet.
Zweieinhalb Stunden schaffe ich aber, wie schon erwartet, nicht. Nach eineinviertel Stunden lässt die Konzentration rapide nach. Bis dahin erleben wir, die Bewohnerinnen, Bewohner und ich, eine richtig gute Zeit. Sie wünschen sich, dass ich wiederkomme und ich wünsche mir das auch, denn plötzlich macht das Leben wieder Sinn.
Die Mitarbeiterin der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung EUTB, die ich letzte Woche aufgesucht habe, brachte einen neuen Gedanken ins Spiel, als ich ihr erzählte, wie bedrückt ich im Januar und Februar gewesen war: Sie trauern. Ja das kommt hin, ich trauerte um die, die ich mal war.
Wenn ich wieder arbeiten könnte, sei es noch so kurz, hätte ich einen Teil von mir zurück. Und noch mehr dazugewonnen, weil meine Erkrankung sogar von Nutzen ist.
In den letzten Tagen ist mir eine THE CHOSEN - Folge, die aktuelle amerikanische Verfilmung des Neuen Testamentes, sehr nahe gegangen, in der ein Jünger, der Kleine Jakobus, Jesus bittet, ihn von seiner Behinderung zu heilen. Er scheint - das ist fiktiv! - unter den Folgen einer Polioinfektion zu leiden. Jesus erklärt ihm sehr liebevoll, dass er den Jünger so braucht wie er ist. Stell dir dein Zeugnis vor, wenn du selbst als Kranker die Kraft hast, zu heilen.
Jetzt erlebe ich etwas ähnliches, die Stärke der Krankheit.
Am Abend muss ich meinen Kopf klären. Das geht am besten im Wald, auch wenn er gerade noch furchtbar kahl und leblos wirkt. Der Hochsitz ist neu, der alte liegt zu einem kleinen Holzhäufchen zusammengesägt daneben. Der neue duftet, als ich hinaufsteige, die beiden Hunde unter dem Arm. Einzelne Vögel zwitschern schon. Der Steinkauz hat seine Balz intensiviert und ruft inzwischen sogar tagsüber. Will da nicht endlich mal ein potentieller Partner antworten?! Es wird einem ja ganz einsam zu Mute, wenn man ihn monatelang allein so leidenschaftlich rufen hört. Ich drücke dir ganz feste die Daumen, kleiner Eulenvogel, dass du den allerbesten Partner der Welt findest. Gut Ding braucht Weile.
26. Februar 2025


Im Hinterstübchen
Lotte ist einfach hineingeschlendert. Hätte sie sich hektisch bewegt, wäre es mir schneller aufgefallen. Die hohe Stufe in den sonst abgetrennten Bereich hinten im Stall hat sie lässig übersprungen. Und obwohl die Eselinnen nun wirklich nicht hier hineingehören, erfreue ich mich doch an diesem Anblick.
Lotte zupft hier ein paar Heuhalme, stibitzt dort. Sie hängen ihr zu beiden Seiten aus dem Mäulchen heraus. Genüsslich steckt sie ihre Nase in das duftende Heu, das eben erst geliefert wurde. Ein letztes Mal in diesem Winter habe ich den Vorrat wieder aufgefüllt, zehn Ballen für die nächsten vier Wochen im Winterstall, weitere zehn habe ich schon im Eselgarten eingelagert für den nächsten Eselsommer, den ich kaum noch erwarten kann. Der junge Landwirt aus dem Altenautal hat mir geholfen, die schweren Ballen hineinzuschleppen ins Hinterstübchen, das gerade um soviel höher liegt wie der Wohnraum im biblischen Einraumhaus gegenüber dem vorgelagerten Eselstall. Womit bewiesen wäre, dass der hohe Absatz für die Tiere auch damals kein Hindernis gewesen sein kann.
Für mich schon, vor allem mit einem Heuballen vor dem Bauch. Ich bin noch schlapper nach dieser Probearbeitswoche als sonst schon.
Obwohl kaum noch Kraft da ist, als der Landwirt wieder davonbraust, muss heute die Schubkarre mit dem Eselmist auf dem Kompost geleert werden, damit ich weiter misten kann. Aber vorher wenigstens einmal kurz durchschnaufen!
Sofort öffnen sich die Sinne.
Es dämmert schon. Die Nilgänse, die in jedem Frühjahr herkommen, seit ich in der Gegend wohne, fliegen tief über das Außengelände, stoßen ihre kehligen Schreie aus. Genießen Sie noch einmal die Zeit zu zweit, bevor die anstrengende Brut beginnt? Im Gesträuch keckert Hope. So habe ich das Rotkehlchen genannt, das in einer mit Moos ausgepolsterten Ritze des unverputzten Stallgewölbes überwintert und in der Dämmerung manchmal ein bisschen im Stall herumspringt.
Und als ich so ganz und gar bei mir bin, ist Lotte mit einem Satz durch die offen gelassene Tür ins Heulager gehüpft.
Es ist wahrscheinlich das Spannendste, was Rosie und ihr heute passiert. Deshalb lasse ich ihnen die Freude.
Die Eselbeine laufen - und springen - allesamt wieder ganz gut. Der Quark hat sehr schnell bei Rosalie gewirkt, obwohl sie das Wickeln doof fand und der Huf noch warm ist. Dieses Mal sind die Hinterhufe nicht gut geschnitten, zu schnabelig. Die Fehlstellung hat zu einer Überdehnung der Sehnen geführt, denke ich. Wir brauchen schnellstmöglich nochmal einen Hufschmied. Gar nicht so einfach. Da unterscheiden sich die Hufpfleger nicht von anderen Handwerkern.
Jetzt aber hinaus mit euch! scheuche ich die beiden lächelnd zurück in ihren Teil des Stalls. Das Abendheu steht schon bereit.
Und mein Bett. Ich bin sooo müde.
28. Februar 2025